Mein Tag mit Paul

Mein Tag mit Paul

21. April 2022 3 Von Jörg

Er ist 13 Jahre alt und ich nenne ihn hier Ishimyimana Paul. Schon als ich ihn das erste mal sah, fiel es mir schwer, nicht weg zu sehen. Das Hinsehen fiel mir allerdings auch schwer. Das war vor einigen Wochen, als ein deutsches Chirurgenteam hier in Kirinda war, um verschiedene Operationen durch zu führen. Auch Paul kam mit seiner Mutter und der Frage, ob ihm nicht geholfen werden konnte. Er hat an beiden Wangen und an der Stirn große Schwellungen, Geschwulste könnte man sagen. Aber nein, konnte man leider nicht. Denn diese Geschwulste sind Krebs, genauer ein B-Zell Lymphom. Vor 2 Tagen begegnete ich ihm erneut, auf der Kinderstation. Er kam diesmal total entkräftet und mit einem hartnäckigen Husten. Durch die Erkrankung hatte er kaum noch Blut in sich, doch nach mehreren Transfusionen ging es ihm heute schon etwas besser.

Glücklicherweise gibt es in Ruanda stellenweise wirklich gute Medizin. So gibt es ein Krebszentrum im Norden, das durch die amerikanische Organisation Partners in Health aufgebaut wurde. Hier war Paul schon einmal behandelt worden, vor über 2 Jahren, vor Corona – leider mit mäßigem Erfolg. Irgendwann ging die Mutter dann nicht mehr mit ihm zum nächsten Termin, es gelingt mir nicht zu erfahren warum. Sie gibt mir einen Umschlag, darin sind ca. 20 Zettel, verknickt, abgegriffen. Kassenbelege, Verwaltungsformulare, und auch einzelne medizinische Berichte. Ein richtiges Bild kann ich mir davon nicht machen, aber immerhin finde ich eine Telefonnummer – und erreiche sogar noch den selben Arzt, der Paul damals mit betreut hat. Bei den häufigen Wechseln der Ärzte hier im Land ist das eine positive Überraschung. Nach einem kurzen Gespräch bittet er mich, sämtliche Befunde – wie könnte es anders sein – per Whatsapp zu schicken. Ohne dieses Medium kommt man hier im Land nicht klar. Kürzlich wurde ich sogar in die Whatsapp Gruppe ruandischer Kinderärzte aufgenommen. Mit der verhält es sich allerdings etwas ambivalent: einerseits bekomme ich nun viele wichtige Informationen, andererseits noch viel mehr Gratulationen zu Hochzeiten oder bestandenen Prüfungen… Jedenfalls bittet mich der Arzt, Paul eine Gewebeprobe zu entnehmen und zu ihm zu senden. Da dies mangels Chirurg in unserer Klinik nicht möglich ist, kommunizieren wir mit dem nächst größeren Haus. Es braucht ca. 4 Anrufe um die Vorstellung dort zu organisieren.

Dann erklärt die Mutter, sie möchte das nicht. Es wäre auch zu einfach gewesen. Wie so oft sind es die begrenzten finanziellen Möglichkeiten, die einer besseren Behandlung im Weg stehen. Sie hat noch weitere familiäre Probleme, ihr Mann ist auch krank und kann kein Geld verdienen, da sind die 10-15 Euro, die sie wohl für die Probeentnahme inklusive Transport bräuchte, unerreichbar. Leider erlebe ich so etwas häufig, und das obwohl in Ruanda vergleichsweise viele Menschen eine Krankenversicherung besitzen. Laut offiziellen Angaben sind es fast alle, in der Praxis immerhin so 70 % in unserem Gebiet hier. Diese Versicherung, „Mutuelle“ genannt, kostet pro Kopf und Jahr 3 Euro, dafür werden 90 % der Krankenhauskosten übernommen. Auch Paul hat Mutuelle, aber es bleibt eben noch zu viel übrig, wenn die Rechnung insgesamt um die 100 Euro betragen würde. Das teuerste wäre der Transport mit dem Krankenwagen in die andere Klinik. Dann sollen sie doch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, schlage ich vor. Doch zwischen Kibuye, wo sich das andere Krankenhaus befindet, und Kirinda verkehrt leider kein Bus. Die Sozialkasse unserer Klinik ist chronisch leer, was in erster Linie an dem mangelndem Zufluss liegt. Ich weiß inzwischen, dass auch die Lokalverwaltung in besonderen Härtefällen ihre Bürger finanziell unterstützen kann, und schlage das vor. Theoretisch schon, heißt es aber es würde so 3-4 Wochen dauern, um das zu klären, heißt es.

Langsam steigt in mir der Frust. Ich sehe die dünnen Arme des Jungen und frage mich, wie lange er wohl noch zu leben hat. Und wie sein Alltag wohl aussieht, so entstellt und schwach. Wir haben ihm schon etwas hochkalorische Nahrung gegeben. Auch ein einfaches Medikament, das in unserer Krankenhausapotheke leider fast nie vorrätig ist, habe ich ihm aus Muhanga, wo wir wohnen, mit gebracht. Um zumindest ein paar kleinere Problemchen, die seine Krankheit mit sich bringen, zu lindern.

Ich denke eine Weile darüber nach, aber ich weiß genau, dass die Entscheidung eigentlich schon gefallen ist. Ich will nicht in das System hier eingreifen, will nicht einfache Lösungen durch ausländisches Geld anbieten, die so verschwinden wie sie kamen, sobald ich eines Tages nicht mehr hier bin. Das wäre nicht nachhaltig. Nachhaltig, ein Wort, ein Modewort, das mir wichtig ist, das mich auch wirklich herausfordert, anstrengt. Aber es ist nicht die einzige Herausforderung in diesem Zusammenhang: Was mich an Jesus schon immer fasziniert hat ist die Aufforderung, zu lieben. Den anderen wie mich selbst, und ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Wie würde unsere Welt aussehen, wenn wir Menschen das umsetzen könnten? Leider fehlt mir gelegentlich die genaue Ausarbeitung dessen, was das in der jeweiligen Situation bedeuten mag. Auch finde ich das Wort Nachhaltig nicht in der Bibel. War ich anfangs sehr darauf bedacht, keine Abhängigkeiten zu schaffen, indem ich Geld gebe, musste ich diesen Gedanken inzwischen etwas relativieren. Die Abhängigkeiten im medizinischen Sektor sind längst vorhanden, und werden auch in den nächsten Jahren vorhanden sein. Kaum ein Gerät der Klinik wurde selbst gekauft, auf fast allem befindet sich ein Aufkleber, der auf die spendende Organisation hinweist. Moderne Medizin ist – auf das durchschnittliche Einkommen in Afrika bezogen – einfach viel zu teuer. Unser Röntgengerät: gespendet. Die zwei Ultraschallgeräte: gespendet. Der neue 100 m lange überdachte Weg zur Notaufnahme: gespendet. Die Behandlung von Krebspatienten im Norden des Landes: wäre ohne ausländische Gelder nicht denkbar.

Während ich mit einem der jungen Ärzte hier in Kirinda telefonisch überlege, was zu tun ist, höre ich mich sagen, was mir eigentlich auch schon vor einer Stunde klar war: wenn es keinen anderen Weg gibt, kümmer ich mich um das Geld, daran soll es in diesem Fall nicht scheitern. Ich füge noch hinzu: das Geld kommt nicht von mir, sondern von irgendjemandem in Deutschland. Ich will sicher nicht als der große Spender auftreten. Und es stimmt sogar, denn selten kommt es vor, dass mir Bekannte von zu Hause etwas Geld geben, das ich wie in solchen Fällen unbürokratisch verwenden kann.

Aus Deutschland kenne ich diese Probleme nicht (oder zumindest nur extrem selten). Unsere soziale Absicherung (sogar für mich, der ich gerade hier in Ruanda bin) ist so gut, dass keine Behandlung an den Transportkosten scheitern würde. Oder daran, dass man sich eine Standarttherapie nicht leisten kann (ich weiß, es gibt ein paar ganz wenige Ausnahmen). Das eigenartige ist, das man erst mit Blick auf die Probleme hier erkennt, wie gut man es hat.

Und es gibt noch einen weiteren Aspekt: hätte Paul’s Familie nicht schon so viel Geld besorgen müssen in den letzten Monaten, wären sie nun wie viele andere zu Bekannten und Verwandten gegangen, um sich das Geld zu leihen. Und nach 1 Woche wären sie wieder gekommen, mit dem Geld. Zumindest läuft das meistens so. Insofern hatte Paul dieses Mal einen Musungu-Bekannten, der ihm hilft, so wie sich hier alle gegenseitig helfen.

Nein, ich werde nicht der geldgebende Bekannte von allen Patienten hier, oft sage ich „nein“. Trotzdem war es in diesem Fall richtig so. Denke ich.

Auch wenn ich befürchte, dass man Paul’s Krebserkrankung am Ende trotz allem nicht wird heilen können. Aber wie könnte man es unversucht lassen…?